Materialprobe TOTAL SPIEGEL HERMANN NITSCH der Maler als Skulptur
– eine Realitätserleichterung, 2005
Die wirklichkeitsgetreue Abbildung des Künstlers Hermann Nitsch stand im Zentrum der Kirche mit seinem Blick zum Altar gerichtet. Über dem Altar befand sich ein großformatiger Screen, auf dem in einem Viertel der Fläche abwechselnd ein Sherlock-Holmes-Filmaus- schnitt und eine Dokumentation über die Herstellung und Korrektur der Nitsch-Figur eingespielt wurde. Auf den übrigen Flächen der Leinwand wurden die Live-Cams eingespielt, die wie Beobachtungs- kameras im Kirchenraum auf die Nitsch-Figur gerichtet waren, eine vom Hochaltar herunter, eine mit Rückenansicht von der Orgelempore aus und eine direkt über der Figur von einem Luster aus (Cockpit). Diese tatsächliche, technisch installierte Totalbeobachtung der Nitsch- Figur ist nicht nur eine ironische Paraphrase auf den auswuchernden Einsatz von Überwachungskameras an diversen öffentlichen Plätzen bzw. eine kritische Anfrage an die Total-Überwachungsgelüste gewis- ser Institutionen und Parteien, was das Recht auf Privatsphäre und den nötigen Datenschutz des einzelnen Bürgers massiv beeinträch- tigt. Das Rundum-beobachtet-werden, wie es während der 40 Tage in der Kirche vorgeführt wurde, ist auch eine beklemmende Selbst- spiegelung, ein nicht mehr Entkommen-können der scheinbar objektiv observierten eigenen Präsenz. Es gibt kein Untertauchen, Abtauchen, „einfach mal weg sein“, auch nicht im Gottesraum – welch eine bedrü- ckende Totalspiegelung! Gustav Troger legt nicht zum ersten Mal seine „Materialproben“ als systematische Befragungen von künstlerischen Strategien und Haltungen an. Wir befinden uns mit dem gesamten Pro- jekt auf einer reflexiven Metaebene. Es geht nicht mehr um die krea- tiven Hervorbringungen des „Staatskünstlers“ Nitsch, seine unendlich repetierten Orgien-Mysterien-Theaterspiele, seine Malereien und Lehrstücke, es geht um ihn selbst als weiterverarbeitbares, modellier- bares Gesamtprodukt. Der Meister wird zum vorgeführten Lehrstück. Eine veritable Realitätserleichterung gegenüber dem Pathos der uner- träglichen Selbstinszenierungen.