Andrä-Viertel und die Kunst der Kommunikation

Margarethe Makovec & Anton Ledere

Neben der Andrä-Kirche steht eine Telefonzelle. Das Telefon ist ein Kommunikationsmittel, das Menschen mit anderen Menschen in Verbindung bringt. Vor wenigen Jahren bildeten sich vor dieser Zelle Warte­schlangen, Einwanderinnen und Einwanderer warteten darauf, von hier aus in ihre erste Heimat zu telefonieren, mit Familie und Freundinnen und Freunden in Kontakt zu bleiben. Heute gibt es keine Warteschlangen mehr und die Telefonzelle, von Mobiltelefonen abgelöst, ist schon fast zum Museums­stück geworden.

So wie sich die Nachfrage nach dieser Telefonzelle verändert hat, so ändern sich auch die kommunikativen Anforderungen im Lauf der Zeit ganz generell. Die Grazer Pfarrkirche St. Andrä liegt inmitten eines Stadtteils, der stark von Einwanderung geprägt ist. Das ist zwar kein neues Phänomen, denn die Stadtteile am rechten Murufer waren durch die Jahrhunderte immer jene Orte, die für Zuwanderung offener und dadurch interessant waren. Aber heute steht die Gegend dennoch vor einer neuen Herausforderung: Viele Menschen kommen von weiter entfernten Ländern der Welt. Unter die länger eingesessenen Bewohner/innen mischen sich Menschen aus (West-)Afrika, aus Zentralasien, aus der Kaukasusregion und aus Anlass der aktuellen Krise verstärkt auch aus dem Nahen Osten.

Die Pfarre St. Andrä stellt sich diesen neuen Herausforderungen, sie ist als offener Ort konzipiert, multikonfessionell eingestellt und gastfreundlich im besten Sinn. Als ein wesentlicher Aspekt der Aktivitäten auf dem Pfarrgebiet und insbesondere im unmittelbaren Umfeld der Kirche sind die Kunst- und Kulturaktivitäten zu betrachten. Diese beschrän­ken sich nicht bloß auf das Kircheninnere, wo ein beeindru­ckender Kosmos von zeitgenössischen Kunstwerken in Verschränkung mit der historischen Substanz gewachsen ist, sondern greifen auch auf den Außenraum über und verstehen dieses konkrete städtische Umfeld als einen wesentlichen Kommunikationsraum mit all seinen sozialen, kulturellen und politischen Verflechtungen.

St. Andrä ist ein nach außen offen agierender Ort. Unübersehbare Spuren und festgeschriebene Zeichen dieser Offenheit finden sich rund um Kirche und Pfarrhof.
Die Fassade der Andrä-Kirche ist selbst schon ein Kommunikationsmittel. Nicht nur die eigentlich für einen größeren Vorplatz angelegte Neorenaissancefassade von August Ortwein, sondern vor allem das 2010 von Gustav Troger konzipierte Textkunstwerk gegen_wart ©2011 fordern zur Kommunikation heraus. Die Begriffe für Farben aus der Farbkarte der Firma Adler treten in einen intensiven Diskurs mit der Umgebung, der in einigen Fällen ziemlich provozierend ist: Afrolook, Arabische Nächte oder Scienc­e Fiction. Als Teil der Außenwahrnehmung der Kirche sind auch einige der neuen Kirchenfenster zu nennen, die in ihrer Wirkung nicht auf den Innenraum, sondern nach außen gerichtet sind. Aufgezählt sind dies die Fenstergestaltung von Manfred Erjautz A Short Break in Time, von der vor allem die nach außen gewuchtete Blase aus Plexiglas hinter einem barocken Fenstergitter unübersehbar ist; Markus Wilflings o.T. Fenster-Notausgang, der von einer in der Glasfläche schwebenden Aluminiumtür gebildet wird; Werner Reiterers Bausünde und replacement von Veronika Dreier, eine riesige Glas­vitrine für abgestellte Stühle an der Apsisaußenseite der Kirche. Die an der Nordfassade angebrachte Plastik Rocket Switch von Valentin Ruhry gehört ebenso in diese beeindruckende Liste von Kirchenfenstern, die entgegen der Jahrhunderte alten Tradition nicht nach innen zur geistigen Erbauung der Kirchen­gemeinde, sondern nach außen funktionieren und argumentieren wollen: Strom ein! für eine intensive Präsenz, aber nicht für einen Ort der Repräsentanz, sondern eben für einen Ort der Kommunikation, des Austausches.

Nach der Betrachtung des Kirchenbaukörpers wollen wir nun einen Rundgang um die Kirche unter­nehmen und nachsehen, wo sich deutliche Zeichen der künstlerisch-kulturellen Arbeit von ANDRÄ KUNST ablesen lassen. Dabei werden uns Orte begegnen, die durch Kunst- und Kulturaktivitäten neu definiert worden sind.
Das ANDRÄ FOYER, 2004 als multikultureller Nachbarschaftstreff konzipiert, ist heute als Lerncafé in Betrie­b, darüber hinaus Treffpunkt für eine internationale Frauengruppe und diverse Aktivitäten. Zuvor war der Zubau an die Kirche ein Abstellraum. Vom Kunstverein BAODO unter der Leitung von Veronika Dreier und Armin Lixl wurde die Fassade mit einem abstrakten Farbflächenkonzept gestaltet – sozu­sagen Support aus der Nachbarschaft, denn der afrikanische Kunstverein ist in der nahe gelegenen Lazarettgasse im Kunstraum und Café NIL zu Hause.
Dort wo die Dominikanergasse auf die Andräkirche stößt, hat das Büro der Nachbarschaften seinen Sitz. Mit Sicherheit einer der wichtigsten Satelliten, die ANDRÄ KUNST ausgebildet hat. Hier ist die aktiv­e Nachbarschaftspflege zum Programm geworden.

Der Raum selbst hat einerseits offene Türen für alle die rundum wohnen und sich dort aufhalten möchten und bietet die verschiedensten Programme an: Vom Sprachkurs bis zum Origamiabend. Dem Büro der Nachbarschaften ist in den selben Räumlichkeiten der Kunstraum nextANDRÄ vorausgegangen, wo von 2009 bis 2011 in Zusammenarbeit mit der Akademie Graz zeitgenössische Kunst auf hohem Niveau ausgestellt wurde.
Etwas weiter entlang der Kirche tut sich der Andrä-Platz auf. Hier gibt es vieles, das augenscheinlich mit ANDRÄ KUNST zusammenhängt. Der wohl älteste Teil ist die im ehemaligen Klostergebäude befind­liche Dominikus-Kapelle, ein einladend spiritueller Ort, an dem ANDRÄ KUNST mit einer beeindruckenden Sakralkunstausstattung von Michael Kienzer seine Wirkungskraft entfaltet hat – nicht so sehr nach außen hin, dafür umso kraftvoller nach innen! Schließlich gibt es auf der Seit­e zum Pfarrhof hin und entlang diesem weiter in die Kernstockgasse folgend einige Mauerabschnitte, die von den künstlerisch-kulturellen Ambitionen nicht unberührt blieben. Rechts vom Eingang zum Pfarr­hof hängt dauerhaft ein großes Gemälde des als Grazer Stadtmaler bekannten ENKS. Der gebürtige Ghanaer verquickt hier farbenprächtig das Leben in der Stadt Graz mit religiösen Motiven. Dann die Mauer in der Kernstockgasse. Dort ist als wichtiges alternatives Medium seit Jahren die aktuelle Ausgabe der in Graz herausgegebenen Wandzeitung Ausreißer zu lesen. Oder, als kurzfristiger angelegte Intervention, gab es 2008 einen Schriftzug aus dem Projekt Dein Land gibt es nicht von Libia Castro & Ólafur Ólafsson. Und seit geraumer Zeit wiederum sind nun Textbotschaften aus Erwin Stefanie Posarnigs Kollektion zu sehen, darunter der im Kirchenumfeld exponierte Satz: „Ich war Ihnen zu autonom!“
Abgesehen von diesen bleibenden Spuren gab es am Andrä-Platz im Laufe der Jahre auch einige temporäre Kunstinterventionen. Auch wenn ordentlich gebaut und demonstrativ hingestellt wurde, verstanden sich diese Arbeiten nie primär als Kunstobjekte, sondern eher als kommunikative Plattformen. Den Anfang bildete 2001 eine Beton­skulptur, eine monumentale Sockelfläche von Gustav Troger, die für die Performance Weisses, weisses Album geschaffen wurde und noch einige Jahre als Bühne Verwendung fand. 10 Jahre lang stand am Platz ein Pavillon, genannt SHELTER, realisiert von Erwin Stefanie Posarnig als Teil seines längerfristigen Projekts: Die permanent temporäre Stadt­skulptur. Verortet war diese am Andrä-Platz von 2003 bis 2013. Genaus­o ohne festen Aufenthaltstitel und „nur“ geduldet, wie viele seiner Nutzer/innen – dazu kommen wir gleich. Als der Pavillon 2003 für das mehrwöchige Projekt der Pfarre St. Andrä GriesKochKultur aufgestellt wurde, war in Graz gerade Kulturhauptstadt Europas angesagt, vieles war leichter umsetzbar als sonst und der Pavillon stand ab nun zur Nutzung bereit, die auch vielfältig erfolgte. 2010 gab es z.B. unter der Leitung des Künstlerpaars Delaine und Damian Le Bas in Zusammenarbeit mit Bewohnerinnen und Bewohnern des VinziNests ein kleines Update für den Pavillon.

Im Frühjahr 2013 wich das in die Jahre gekommene, aber stets sehr benutzte Holzbauwerk schließlich dem skulpturalen Objekt Welcome, entworfen von Markus Wilfling, auch er wie Erwin Stefanie Posarni­g und Gustav Troger ein Künstler, der sich schon vielfach in ANDRÄ KUNST eingebracht hat. Er gewann einen geladenen Wettbewerb mit seiner Gestaltung, die an ein Zirkuszelt erinnert und in dessen Zentrum eine „edle“ Sitzgruppe zum Aufenthalt einlädt.
Wer hält sich nun am Andrä-Platz, früher bei SHELTER und nun bei Welcome, auf? Der Platz ist zwar klein, aber es gibt eine sehr vielfältige Nutzer/innenstruktur. Möglicherweise gibt es in Graz keinen anderen Platz dieser Größe, der von derart unterschiedlichen Gruppierungen genutzt wird. Dazu zählen zunächst einmal die Anrainer/innen, insbesondere die Bewohner/innen des als Wohnbau genutzten ehemaligen Dominikanerklosters und der Kernstockgasse. Wenn sie schon nicht den Platz an sich „bewohnen“, so durchqueren sie ihn zumindest oder nutzen ihn zum Ausführen der Hunde. Dann ist da die Pfarrgemeinde aktiv, wie eben St. Andrä hochaktiv ist. Als besondere Gruppe aus der Gemeinde sind die Afrograzer/innen zu nennen, die sonntags nach dem afrikanischen Gottesdienst sehr lebhaft und akustisch intensiv den Andrä-Platz bevölkern. Und als präsenteste Gruppe können sicher die wechselnden Bewohner/innen des VinziNests betrachtet werden. Das sind jene Menschengruppen, die täglich in aller Herrgottsfrüh aus dem VinziNest auf den Platz strömen und sich dort nachmittags wieder sammeln, um auf das Aufsperren der Notschlafstelle zu warten. Ansonsten sind diese Wohnungslosen, denen vielfach jedes Recht abgesprochen wird, auf Grazer Straßen und Plätzen als Bettler arbeitend zu treffen. Und ja, Schüler/innen aus den umgebenden Schulen sieht man am Andrä-Platz auch nicht selten.

An alle Genannten richten sich kommunikative Angebote aus der Kunst- und Kulturarbeit, die direkt am Andrä-Platz stattfindet – keine geringe Herausforderung! Gehen wir noch einmal zurück ins Jahr 2003. Graz ist, wie gesagt, Kulturhauptstadt Europas und in allen Teilen der Stadt tut sich was, so auch am Andrä-Platz mit der so genannte­n GriesKochKultur. In der damals neuen Pavillonarchitektur von Erwin Posarnig und drumherum wird multikulturell aufgekocht und geschlem­mt. Kochen und Essen sind als Form der Kommunika­tion und des In-Kontakt-kommens allerbestens geeignet. Das wird sich in den kommenden Jahren am Andrä-Platz bei vielen Gelegenheiten wieder und wieder zeigen. Musik spielt dabei auch eine bedeutende Rolle und kommt in vielen Spielarten vor. Seit 2011 ist das Büro der Nachbarschaften vor Ort die aktivste Zelle. In verschiedenen Formaten wird am Platz der Austausch gesucht, das immer wieder zelebrierte Nachbarschaftsfrühstück kann hier beispielhaft ebenso genannt werden wie die zahlreichen Workshops, die künstlerische wie kulturelle Fähigkeiten zum Mitmachen und Erlernen anbieten. Ein besonderes Langzeitprojekt ist der Gottesacker. Dabei handelt es sich um ein Urba­n Gardening Projekt, also urbanes Gärtnern zum Mitmachen. Am Andrä-Platz gibt es gleich neben der Kirche ein Areal, in dem seit 2011 von verschiedenen, multikulturellen Gruppierungen ausgesät und gegärtnert wird. Apropos Stadt Graz, das wurde bis jetzt nicht erwähnt, ist aber durchaus interessant: Der Andrä-Platz gehört nicht der Kirche, sondern ist öffentlicher Grund. Auch hier tut sich noch zusätzlicher Kommunikationsbedarf auf, wenn intensive und vielfach auch spontane Aktivitäten auf einem öffentlichen Platz stattfinden wollen und sollen. Bürger/innen machen sich hier im besten Sinn den öffentlichen Raum zunutze (der ihnen als Grazer/innen ja auch gehört).

Schließlich sollen noch einige der vielen temporären künstlerischen und kulturellen Aktivitäten erwähnt werden, die die Nachbarschaft von St. Andrä angeboten hat. Vor allem Aktivitäten, die sich auf die Umgebung in ihrer Vielfalt an Fragestellungen eines zeitgenössischen Stadtraums beziehen. 2008 und 2010 war St. Andrä ein Austragungsort der Romale!, jenes Festivals, das sich mit der Geschichte und Gegenwart der Roma in Europa befasst. Das ist natürlich die beste Standortwahl, die man sich denken kann, in Anbetracht der zahlreichen Roma, die übers Jahr den Andrä-Platz frequentieren und zum größten Teil Bewohner/innen des VinziNests sind. Auf diese Weise konnten europaweite Diskurse rund um Roma-Lebenswelten verständlich auf die lokale Ebene heruntergebrochen werden.
Die steirische Plattform BLEIBERECHT hat in der Pfarre St. Andrä einen wichtigen Ankerpunkt. Und im Programm von ANDRÄ KUNST ist dieses für Österreich als Wohlfahrtsstaat so desavouierende Thema wiederholt aufgegriffen worden. Eine eindringliche Aktion fand 2009 statt, als das so genannte Narrenschiff, ein Objekt in Schiffsform, geschaffen von Stefan Glettler und Bernhard Rappold in Zusammenarbeit mit Häftlingen der Justizanstalt Hinterberg in der Kirche ausgestellt wurde und dann in einer Art „politischer Prozession“ zum Machtzentrum des Landes, in den Landhaushof, gekarrt wurde. An Bord waren die Porträts und Leidensgeschichten von Menschen, die aktuell von Abschiebung bedroht sind.
Eine positive Vision schufen 2011 Karin Schagerl und Marina Stiegler, als sie in zahlreichen Sessions Menschen im Andrä-Viertel einluden, „Gute Wünsche für die Zukunft“ auf vorbereitete Fahnen zu zeichnen, zu schreiben, zu collagieren oder zu nähen. Die mehreren hundert vielfältigen wie vielsprachigen Wunschfahnen wurden dann auf langen Schnüren hoch oben in den Bäumen des Andrä-Platzes aufgezogen und wehten ein Jahr lang wie ein großes, zusammenhängendes Mantra im Wind.
Seit Hermann Glettler im September 1999 St. Andrä als Pfarrer übernommen und einige Monate später die ANDRÄ KUNST gestartet hat, ist dieses alte Siedlungszentrum auf der rechten Murseite wieder ein stark wahrnehmbares Gravitationszentrum geworden – für Spirituelles, für Soziales, für Gesellschaftspolitisches, für Kunst- und Kultur. Und es ist eine stets in Bewegung befindliche Kommunikationsdrehscheibe für die Nachbarschaft – zu Recht spricht man heute ganz selbstverständlich vom Andrä-Viertel.