Über Gott und die Welt – Kunst. Kirche. Öffentlichkeit.

Birgit Kulterer
Über Gott und die Welt – Kunst. Kirche. Öffentlichkeit.

“Art is an activity consisting in producing relationships with the world with the help of signs, forms, actions and objects.”
(Nicolas Bourriaud)

Graz, 2013: Leuchtend gelbe Planen verhüllen die Symbole des christlichen Glaubens in der Stadt, blenden sie aus und markieren sie zu­­­­­­­­glei­ch.­ Das Ver- und Enthüllen soll das, was im Alltag nicht (mehr) wahrgenommen wird, ins Bewusstsein zurückholen. Christos monumentale Verhüllungsaktionen, vom Berliner Reichstag bis zur Pont Neuf, stehen ganz offensichtlich Pate, die Erinnerung an Steinbrener/Dempfs temporäre Ausblendung sämtlicher Aufschriften in einer Wiener Einkaufsstraße vervollständigt das Déjà vu. Die PR-Strategen der katholischen Kirche eignen sich, ausgehend von der Tradition der Fasten­­tücher, in einer österreichweiten Aktion die Sprache der Kunst an, um mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren: „Es soll zeigen, wie der öffentliche Raum und die gesamte Zivilgesellschaft seit Jahrhunderten durch das Christentum wesentlich mitgeprägt worden sind und auch heute mitgeprägt werden.“ (Egon Kapellari)
Kassel, 2012: Stefan Balkenhols Skulptur am Kirchturm von St. Elisa­bet­h sorgt für einen medialen Schlagabtausch der kirchlichen Initiatoren mit der Leitung der weltgrößten Präsentationsplattform für zeitgenössische Kunst. Es liegt auf der Hand, dass es dabei um mehr geht als „nur“ um Kunst, genauer: um eine sich um ihre eigene Achse drehende, auf einer goldenen Kugel balancierende menschliche Figur, die nicht ins Konzept einer dOCUMENTA (13) passen will, die sich der Abkehr von einem anthropozentrischen Weltbild verschrieben hat und einen grundsätzlich offeneren Kunstbegriff vertritt. Nichts weniger ist das eigentliche Thema als die so oft gestellte und immer wieder neu zu stellende Frage, wem der öffentliche Raum gehört.

Dass er, als Ort der Repräsentation, schon immer ein Spiegelbild der lokalen und globalen politischen wie gesellschaftlichen Machtverhältnisse war, bedarf ebenso wenig einer umfangreichen Beweisführung wie die Tatsache, dass die katholische Kirche in Bezug auf den öffentlichen Raum und die Kunst, in Allianz mit den Institutionen weltlicher Macht, jahrhundertelang bestimmend gewesen ist. Ein Blick vom Grazer Schloßberg auf ein Stadtbild mit über fünfzig Kirchen genügt in diesem Zusammenhang.
Steinbrener/Dempfs Delete! dagegen macht sichtbar, wer hier und heute, in der neoliberalen Stadt, das Sagen hat. Die Menschen werden, parallel zu dem, was sich in den virtuellen öffentlichen Räumen abspielt, als Passantinnen und Passanten mit einer Flut an visuellen wie auch akustischen Botschaften konfrontiert, die nur das Eine wollen: ihnen ihre ausschließliche Existenzberechtigung als Konsumentinnen und Konsumenten in Erinnerung zu rufen. Die totale Okkupation des sozialen Leben­s durch wirtschaftliche Interessen reduziert die Menschen auf „Extras“ (Nicolas Bourriaud) einer „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Débord). Wer aus der Spirale von Konsum und Leistung, die dieses System am Leben erhält, herausfällt, oder sich bewusst heraushält, wird als entbehrlich betrachtet. Im Zeitalter seiner Privatisierung und Kommerzialisierung spiegelt ein öffentlicher Raum, in dem zwar jeder­zeit Platz für noch einen „Kundenstopper“ zur Ankündigung von Sonderangeboten ist, aber keiner für Menschen, die uns mit ihrer Anwesenheit die verdrängte Kehrseite der Medaille vor Augen führen, eine Gesellschaft wider, in der die sozialen Gräben immer breiter und tiefer werden und der Verlust von Empathie und Solidarität – man kann es auch Nächstenliebe nennen – zu den tolerier­baren Neben­wirkungen zu zählen scheint. In der „Menschenrechtsstadt Graz“ wird 2011 ein Bettelverbot als politische Maßnahme zur Erhaltung einer störungsfreien Konsum- und Tourismuskulisse für notwendig erachtet, die Plakate der rechtspopulistischen Parteien sprechen eine deutliche, menschenverachtend­e Sprache, die auch nicht davor zurückschreckt, christliche Werte, bis zur Unkenntlichkeit verbogen, in ihr Gegenteil verkehrt, vor den eigenen Karren zu spannen. Und die Werbung verkündet ohne Rücksicht auf ethische Verluste: „Geiz ist geil!“
Gegenstimmen sind mehr als notwendig. In Graz setzen sich engagierte Bürger/innen auf die Straße, um gegen das mittlerweile vom Verfassungsgerichtshof für menschenrechtswidrig erklärte Bettelverbot zu protestieren.

Occupy Wall Street, Tahrir, Puerta del Sol, Gezi Park, und wieder Tahrir … der öffentliche Raum ist, auch wenn er in dieser Hinsicht von vielen schon abgeschrieben worden war, ein Ort, wo Themen von öffentlichem Interesse verhandelt werden, wo aktive Bürger/innen ihre Empörung über soziale und politische Missstände artikulieren, Demonstrationen gegen die globale Vorherrschaft ökonomischer Interessen stattfinden und Revolutionen beginnen. Eine Kunst, die hier, also außerhalb der White Cubes von Ausstellungen und Museen – K. J. Pazzini nennt sie „Institutionen der gefahrlosen Präsenz“ – Position bezieht, ist gesellschaftlich und politisch relevant (auch ohne den Einsatz konkreter aktivistischer Strategien). Vorausgesetzt, man denkt dabei nicht an im Außenraum zu Repräsentations- oder Dekorationszwecken abgestellte Skulpturen. Kunst im öffentlichen Raum ist alles andere als ein beliebiges „add-on“ und hat mit „Stadtverschönerung“ nichts (mehr) zu tun. Sie geht an die Substanz, artikuliert ein „Recht auf Stadt“ (Henri Lefebvre), ermöglicht alternative Sichtweisen und Denkrichtungen als Grundlagen für alternatives Handeln und setzt auf das Fremde, auf die produktive Verunsicherung als wertvolle Voraussetzung, um über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen.
Science fiction, gelbes Trikot, Fair Play, Schafherde, Arabische Nächte, don‘t worry, Anno Dazumal, E-mail für dich, Adam und Eva, Blaues Wunder, Sonnenblume, Aura, es grünt so grün, Musterknabe, Rosinen, Bis bald! … Seit ihrer Neugestaltung durch Gustav Troger sendet die Fassade von St. Andrä rätselhafte Signale aus, die geeignet sind, als unerwartete, andere Stimme im Chor der plakativen Slogans von Werbewirtschaft und Politik gehört zu werden. Hier steht weder vordergründig „drauf was drin ist“ – in Form von christlichen Botschaften –, noch werden Versprechen abgegeben oder Wahrheiten postuliert. Dieser „Text“ entzieht sich jeder eindeutigen Lesart und definiert die Oberfläche der barocken Kirche als Kommunikationsdisplay neu. Es geht nicht um die Manifestation von hegemonialen Ansprüchen in der Stadt, aber auch nicht um einen gleichermaßen kurzlebigen wie geschwätzigen Message-Overkill à la Facebook, Twitter und Co. Hier wird mit angebrachter Aufmerksamkeit für den Einsatz von Sprache ein Angebot für einen Dialog formuliert, das mitten im Alltag einen Raum für Entschleunigung und Reflexion schafft. Gustav Troger greift dafür auf die Farbkarte der Firma Adler zurück, auf die Bezeichnungen, die den verschiedenen Farben assoziativ zugeordnet werden – mit „Skepsis“ und „Nur Mut!“ schaltet sich die Pfarrgemeinde ein – und verstreut sie in unterschiedlichen Typografien auf dem Baukörper. Unter den wie zufällig zusammengewürfelten Wörtern und Botschaften lassen sich vielfältige individuelle Anknüpfungspunkte finden, bietet sich ein buntes Bild zahlreicher Möglichkeiten, sich angesprochen und zu Gedanken „über Gott und die Welt“ herausgefordert zu fühlen. Bezeichnend auch der Titel: gegen_wart ©2011.

Trogers Beitrag operiert, wie das Projekt ANDRÄ KUNST als Ganzes, an der Schnittstelle zur Öffentlichkeit mit der Sprache einer im Heute verankerten Kunst, deren Kommunikationspotential im Rahmen einer ortspezifischen Strategie zur Anwendung gelangt. Das Sprachnetz über der Kirche reagiert sowohl auf die „Stadt als Text“ (Michel Butor) – den neben der Werbung auch Verkehrsschilder, Wegweiser u. ä. strukturieren – indem es ihrem „Vokabular“ eine neue, sich jedem Reglementierungszweck verweigernde Kategorie entgegensetzt, als auch auf den Kontext des Ortes und seine Inhalte, ohne dabei als „kirchliche Kunst“ zu agieren. Weit über eine Fassadengestaltung als klassische Kunst am Bau hinausgehend, hat Trogers Textinstallation medialen Charakter. „Die Stadt spricht zu ihren Bewohnern“ schreibt der Zeichentheoretiker Roland Barthes. Es ist die „Fremd­sprache“ der Kunst, die das Sender-Empfänger-Prinzip zu einer dialogischen Konstellation erweitert, und, im konkreten Fall, die Außenhaut der Kirche symbolisch zu einer in beide Richtungen durchlässigen Membran macht.
Offenheit und Austausch statt institutioneller Repräsentation, „Aggiornamento“ durch Kunst?
Wenn man danach fragt, welche Rolle die katholische Kirche in der Welt von heute spielt, muss daraus die Frage folgen, wie sie sich in und gegenüber dieser Welt und ihren Wirklichkeiten positioniert. In einer Zeit, in der nicht nur die Heilsversprechen der Konsum- und Wettbewerbsgesellschaft allgegenwärtig sind, sondern auch unterschiedliche religiöse Überzeugungen wieder verstärkt aufeinanderprallen beziehungsweise gegeneinander ausgespielt werden, und weltliche und geistliche Macht neue Allianzen eingehen, ist das zweifellos eine Herausforderung – und Kommunikation, mit anderen Worten: miteinander ins Gespräch zu kommen und im Gespräc­h zu bleiben, ein Schlüsselmoment des positiv besetzten Neben- und Miteinanders einer Vielfalt von Religionen und Kulturen, wie sie in der Pfarre St. Andrä mit Engagement gelebt wird.

Welcome! Die neueste künstlerische Intervention auf dem öffentlichen Platz zwischen Kirche und Pfarrhaus ist eine explizite Einladung, sich „an einen Tisch zu setzen“. Markus Wilfling stellt die Infrastruktur zur Verfügung: Ein ovaler Tisch aus Holz mit mehreren Sitzgelegenheiten in hochwertiger Verarbeitung, der an einen Konferenztisch oder an einen Besprechungstisch aus der Vorstandsetage eines Konzerns erinnert. Mit dem Unterschied, dass es hier mehr als einen „Chefsessel“ gibt und es die Öffentlichkeit ist, die eingeladen ist, Platz zu nehmen. So heterogen wie sie ist, ohne Unterschiede betreffend den sozialen Status, die Herkunft, die Religion oder die Sprache. Das Bild eines Tische­s, an dem mehrere versammelt sind, kann in den christlichen Kontext gestellt werden, wozu sich offensichtliche Möglichkeiten bieten, aber es ist keine Voraussetzung für das „Funktionieren“ der sozialen Skulptur. Dazu kommen zwei angedeutete Zeltkonstruktionen: eine, die das Möbelensemble überdacht und von zwei Weltkugeln bekrönt ist, in denen sich der Andrä-Platz spiegelt, und eine zweite, kleinere daneben. Als temporäre Behausungen implizieren die „Zelte“ einen Ortswechsel, ein nomadisches Dasein. Wieder kann man diese Vorstellung auf den zeitlich begrenzten Aufenthalt des Menschen in dieser Welt anwenden oder aber auf die Tatsache, dass Migration, also das (meist) erzwungene Aufschlagen neuer Zelte, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, eine Realität ist, die im „Zirkus Welt“ nur allzu oft dann auftritt, wenn es nicht gelingt, Konflikte am Verhandlungstisch zu lösen. In der globalisierten „Arena des repräsentativen Kommerzes“ (Nicolas Bourriaud), in der sich erste, zweite und dritte Welt nicht näher kommen, sondern immer weiter auseinander driften, repräsentiert eine künstlerische Arbeit wie Welcome! einen sozialen Zwischenraum (social interstice), in dem die „Gesetze“ dieser Realität exemplarisch außer Kraft gesetzt werden, um zwischenmenschlichen Begegnungen in einer neuen Gemeinschaft Platz zu machen.

Und in der Nacht leuchtet ein überdimensionaler Wippschalter von der Westfassade. Valentin Ruhrys Rocket Switch stellt, wie schon Markus Wilfings Glastür aus dem Baumarkt und Werner Reiterers Fensterlösung inklusive Klimaanlage – eine deutlichere und ironischere Absage an Repräsentationsgesten ist wohl kaum denkbar –, über einen (höchst) profanen, umgewerteten Alltagsgegenstand auf der „Visitenkarte“ der Architektur eine Verbindungslinie zwischen sakraler Zone und gegenwärtiger Lebenswelt her. Der „Licht-Schalter“ ist im theologischen Zusammenhang mit vielfachen Deutungen aufladbar, sein kühles, sachliches Leuchten aber verstärkt seine Präsenz in einer Welt, deren Verhältnis zur Institution Kirche nicht frei von Spannungen ist und die als Lösung auf individueller Ebene nicht selten das Modell einer „On/Off-Beziehung“ parat hat.
ANDRÄ KUNST nimmt Public Relations als Beziehungs-Arbeit mit der Öffentlichkeit wörtlich. Mehr noch: Über das verbindende Element der zeitgenössischen Kunst wird Öffentlichkeit hergestellt. Geht man mit Vilém Flusser davon aus, dass Stadt überall dort ist, wo sich Menschen einander öffnen, wo sich kommunikative Kanäle verdichten, wird hier urbaner Raum generiert – ein öffentlicher Raum, in dem nicht zuletzt die Frage offen verhandelt werden kann, welche Funktion die Kirche für die Gesellschaft heute hat und welche Verantwortung sie bereit ist zu übernehmen.