Kunst lässt Größeres erahnen

Irmtraud Letzner
Kunst lässt Größeres erahnen

Letzner

Für mich ist Kultur etwas Lebendiges – Werden, Wachsen, Veränderung. Es gehört ganz selbstverständlich dazu, dass Kunst in der Kirche nicht nur Vorhandenes pflegt, sondern ebenso nach Neuem Ausschau hält. Besteht nicht bei so manchen kunstvoll ausgestalteten Kirchenräumen früherer Perioden die Gefahr, museal zu wirken, wodurch sich das Kirchenvolk unter Umständen zu stark im Traditionellen wohlfühlen mag? Die Beispiele aktueller Kunst in der Andräkirche sind eine unausweichliche Einladung, sich mit der Gegenwart und ihren geistigen Strömungen auseinander zu setzen. Neues kann und muss auch immer wieder provozierend sein. Man spricht darüber, einige schimpfen, man beschäftigt sich damit und wird vielleicht sogar zu einem Glaubensgespräch angeregt. Durch ANDRÄ KUNST werden Menschen auf die Kirche aufmerksam, die ihr sonst wohl kaum ihre Aufmerksamkeit schenken würden.
Hin und wieder hört man den Vorwurf, dass moderne Kunst im alten Kirchenraum stören würde. Meiner Meinung nach trifft das nicht zu, wenn es wirkliche Kunst und nicht Scharlatanerie ist. Eines der ersten Kunstwerke in St. Andrä war das Kirchenfenster von Markus Wilfling. Als ich es zum ersten Mal sah, dachte ich mir: Ist das nicht paradox, eine Tür im Fenster? Und bei wiederholtem Hinschauen eröffnete sich mir etwas: Die Tür wurde zum Zeichen, ein Tor zu einer anderen Welt, ein Tor der Hoffnung. Man sieht auf einmal das Gewohnte, das Vertraute mit neuen Augen.
Es stimmt natürlich auch, dass sich etliche Pfarrbewohner/innen mit so manchem neuen Werk oder überraschenden Kunstaktionen schwer getan haben. Andererseits habe ich sowohl von alten wie auch jungen Kirchenbesuchern viel Positives gehört, etwa über den verspiegelten Altar und die Spiegelsäule von Gustav Troger oder über die kraftvoll verschlungenen Linien Otto Zitkos in der Andreaskapelle.
Neben den mittlerweile zahlreichen neuen Kunstwerken in der Kirche gibt es immer wieder auch temporäre Kunstinstallationen und künstlerische Veranstaltungen. Jedes Mal bringt dies erfrischende Erfahrungen, andere geistige Zugänge zu allzu Gewohntem, neue Sinnzusammenhänge, kurzum Horizonterweiterungen – und das ist etwas Schönes und Wünschenswertes.
Moderne Kunst ist für mich ein Zeichen lebendigen Glaubens, ein Zeichen dafür, dass es auch heute eine künstlerische Sprache gibt, um Größeres, Geheimnisvolles, Transzendentes erahnen zu lassen.

Irmtraud Letzner, von 2002–2012 Vorsitzende des Pfarrgemeinderates