Mein Lieblingswort ist „Skepsis“

Mein Lieblingswort ist „Skepsis“

Die Grazer Andräkirche ist bekannt als ein kirchlicher Ort, an dem sehr mutige Kunstprojekte durchgeführt werden. Sind sie als Pfarrer nicht ständig mit der Frage nach dem Sinn und möglichen Mehrwert von zeitgenössischer Kunst im kirchlichen Umfeld konfrontiert? Wie können die Worte auf den Außenmauern der Kirche gedeutet werden?

Das frage ich mich auch immer wieder (lacht). Eine produktive Verunsicherung steht immer am Anfang guter Kunst. Gustav Troger hat ein sehr komplexes, organisches Wort- und Sprachnetz über die Kirche gelegt. Es sind Worte, die viele, viele Lebensfelder abdecken. Eine Kommunikation wird angeregt. Man kann nicht unberührt vorüber-
gehen. Entweder springt einen das „Blaue Wunder“ an oder „Rosine­n“ oder „Nur Mut!“. Und man fragt sich unweigerlich: Was hat denn „Science Fiction“ mit der Kreuzgruppe zu tun? Der Passant wird jedenfalls ungefragt in ein Nachdenken verstrickt. Was haben denn diese Worte nun wirklich mit der Kirche zu tun?

Vorerst gar nichts. Das ist ja das Interessante, dass die Außenhaut der Kirche als Projektionsfläche für eine sehr vielschichtige Alltagswirklichkeit verwendet wird. Die ausgewählten Worte stehen fragmentarisch für alles, was uns und die Welt beschäftigt. Die Kirche lässt mit dieser gestalterischen Geste die Welt des Menschen in seiner Bruchstückhaftigkeit ganz nah an sich heran. Darin liegt vielleicht die wirkliche Botschaft: Nicht auf Distanz gehen, sondern Berührung zulassen! Es kam von einigen Personen in der Pfarrgemeinde die Anregung: Wenn schon Beschriftung, dann schreiben wir doch bewusst biblische Worte auf die Fassade bzw. Begriffe, die unsere Werte vermitteln, wie zum Beispiel „Barmherzigkeit, Wahrheit“ oder „Gerechtigkeit“. Es hat einiges an Überzeugungsarbeit gebraucht, um deutlich zu machen, dass diese Alternative nichts bringt. Das Kirchengebäude und die Institution stehen ja ohnehin schon für diese großen Begriffe und deren Botschaft. Da würde man sich fragen: Warum plakatieren sie das? Denken Sie an die politische Werbung: Was leider im politischen Diskurs nicht vorhanden ist, wird überdimensional groß affichiert: Gerechtigkeit, Transparenz, Ehrlichkeit usw. Dementgegen provoziert gerade die inhaltlich absichtslose Auswahl von Begriffen und der Verzicht auf eine äußerliche missionarische Agitation ein wirkliches Interesse.

Vorerst hat es einmal Irritationen provoziert. Liegt darin vielleicht auch schon etwas Prophetisches, im Sinne des Aufweckens aus den altvertrauten Mustern?

„Herr Pfarrer, es ist eine Schande, dass sie so etwas zulassen!“„Das darf nicht sein, dass man eine Kirche so verunstaltet!“ Solche und ähnliche Kommentare hat es zur Genüge gegeben. Und man muss es tatsächlich erst einmal verdauen. Eine umfassende Beschriftung eines Gebäudes ist außergewöhnlich. Das verstört alle bisherigen Sehgewohnheiten. Insgesamt sind jedoch mindestens zwei Drittel der Rückmeldungen positiv. Regelmäßig hört man Statements wie: „Sensatio­nell!“ „Anspruchsvoll!“ „Sehr mutig!“ und ähnliches mehr. Eine alte Dame hat mir erklärt, dass sie jetzt jedes Mal beim Vorbeigehen stehen bleiben muss, um nachzudenken, was sie eigentlich denken soll. Sehr humorvoll, aber das trifft das Anliegen. Es geht um eine produktive Störung der eingefahrenen Seh- und Denkgewohnheiten. Kirche kommt da plötzlich anders daher. Und wie wird das kirchenintern gesehen?

Die Pfarrgemeinde war am Anfang schon sehr skeptisch. Aber die Stimmung ist sehr rasch ins Positive gekippt. Wir haben im Pfarrgemeinderat ausführlich darüber diskutiert. Die Leute haben dann versucht, persönliche Geschichten zu den Worten zu finden und dabei gemerkt, wie sehr alles miteinander vernetzt ist. So wie unser Leben auch vielfältig und beziehungsreich ist. Jetzt beginnt man zu verstehen, dass die Beschriftung von Troger ein historisches Monument zu einem lebendigen, weil sprechenden Objekt gemacht hat. Es erzählt Geschichten, wenn man bereit ist zu hören. Die Worte an der Fassade sind nur Stichworte, die auf größere Geschichten und Erzählungen verweisen. Sie machen ein großes Netzwerk von Bedeutungen sichtbar, das sich natürlich immer nur fragmentarisch erfassen lässt. Jeder muss persönlich schauen, lesen, hören und mit innerer Bereitschaft in den Dialog einsteigen. Dann kommt alles zur Sprache, das ganze Leben!

War es schwer, die zuständigen Gremien, die einen derartigen Gestaltungsvorschlag genehmigen müssen, zu überzeugen?

Die Grazer Altstadtkommission hat sich mit knapper Mehrheit dafür entschieden und das Projekt als temporäres genehmigt. Man kann erahnen, dass da heftig diskutiert wurde. Ebenso wichtig war, dass das Bundesdenkmalamt nach langem Ringen sein Okay für diese Gestaltung gegeben hat. Mir scheint, dass jetzt einige stolz sind, dass man etwas mehr zugelassen hat, als normalerweise üblich.

Was ist Ihr Lieblingsbegriff?

Skepsis. Ich möchte auch denen, die nicht in der Kirche sind, damit signalisieren, dass sie mit ihrem skeptischen Blick von außen und mit ihren Fragen willkommen sind. Und außerdem wünsche ich mir, dass die Leute in vielen Lebensbereichen etwas skeptischer werden, kritischer, aufmerksamer, anspruchsvoller … also gerade nicht zu schnell – im falschen Sinn – zufrieden. Das Evangelium, das wir zu verkünden und zu leben haben, ist anspruchsvoll!
Interview mit Pfarrer Hermann Glettler, Katechetische Blätter, Heft 6/2012